Bereits als Kind habe ich verstanden, dass der 15. August 1960 ein sehr wichtiges Datum für den Kongo ist: der Tag, an dem der Kongo die Unabhängigkeit erlangte. Für die Generation meines Vaters, die das koloniale System miterlebt hat, hat dieser Tag den Status beider Seiten grundlegend verändert. Waren Kongolesinnen und Kongolesen gestern noch indigènes – und somit Menschen zweiter Klasse, die den Weißen unterstellt waren – wurden sie mit diesem Tag zu vollwertigen Bürger/innen.
Ich habe die Unabhängigkeit durch die Erzählungen meines Vaters erlebt. Er versuchte mir seine Inbrunst zu vermitteln, jene des wiederentdeckten Stolzes. Der 15. August 1960 hat aus ihm einen aufrechten Mann gemacht. Mit einem Mal gehörte nicht nur der Kongo, sondern die ganze Welt uns; alle Grenzen waren gefallen und die Zukunft stand allen offen.
Ich glaube, es ist schwierig die Bedeutung und das Gewicht dieses Ereignisses zu erfassen, wenn man die Zeit der Kolonisation nicht am eigenen Leib erfahren hat. Für mich ist die symbolische Kraft des 15. August 1960 nicht besonders stark; ohne Zweifel, weil ich in einem freien Land geboren bin, das die ersten Jahre der Freiheit in einen Freudenrausch versetzt hatte. Es war eine Zeit, in der alle Hoffnung berechtigt schien, und als Kind badete ich in diesem überschwänglichen Optimismus, unberührt von der schmerzhaften Erinnerung an die Jahrzehnte voller Ungerechtigkeiten und Schikane. Für mich ist die Unabhängigkeit ein Anfang, für viele Andere ist sie ein Ziel an sich, eine Erfüllung.
Wenn ich meinem Vater und seinen Freunden dabei zuhörte, wie sie über die Unabhängigkeit redeten, spürte ich eine gewisse Magie in ihren Worten. Eine Art von Wallungen, die ich nie ganz begriff, vielleicht weil ich die Erniedrigungen des kolonialen Systems nicht erleiden musste. Einer von ihnen erzählte mit großer Verbitterung, dass er verhaftet und verprügelt wurde, weil er es gewagt hatte, einem Weißen in die Augen zu schauen... Was mich betrifft, ich habe immer in einem Verhältnis der Gleichheit mit allen anderen Menschen gelebt.
Abgesehen vom bedeutenden politischen Wandel, scheint es mir, dass die Unabhängigkeit vor allem den Alltag der Kongolesinnen und Kongolesen verändert hat, indem sie ihnen ihre Selbstachtung und Würde zurückgab.
Unglücklicherweise hat jedoch der ständige Bezug auf dieses Datum als ein Schlüsselereignis in der Entwicklung des Landes die Kolonisierung und ihr Ende zu einem essentiellen Teil der Geschichte des Kongo erhoben. Doch diese Geschichte ist sehr viel älter und reicher. Die Geschichte des Kongo ist eben nicht nur durch die Phase der Beherrschung des Landes durch Frankreich bestimmt – ebenso wenig wie die Unabhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht die entscheidende Stunde des Landes darstellt.
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Wilfried N'Sondé (*1968 in Brazzaville,Kongo) kam im Alter von fünf Jahren nach Paris, wo sein Vater, ein Künstler, ein Stipendium bekommen hatte. Die Familie blieb dort, Wilfried wuchs in den Pariser Vorstädten auf, studierte später an der Sorbonne Politologie. 1988 kam N'Sondé zum ersten Mal nach Berlin. Freiheit und Lässigkeit der Stadt faszinierten ihn. Mittlerweile lebt er als Autor und Musiker seit fast 20 Jahren dort. Sein erster Roman Das Herz der Leopardenkinder erschien 2007 zunächst in Frankreich, 2008 dann in deutscher Übersetzung. Für seinen Erstling erhielt der Autor bereits drei Literaturpreise, unter anderem den Prix Senghor de la Création Littéraire. Das Buch erzählt von den verzweifelten Versuchen junger Einwanderer in Paris, in der französischen Gesellschaft anzukommen. 2010 erschien in Frankreich sein Roman Le Silence des esprits.